Das Phänomen Franziskus zwischen Projektion und Realität – oder was denkt ein Jesuit?

Meine Sehr geehrten Damen und Herren,

was denkt ein Jesuit, was denkt Jorge Mario Bergoglio, was denkt und will Papst Franziskus? Es gibt einen wunderbare Frage in Witzform, die Sie vielleicht kennen: Was sind die drei Dinge, die selbst Gott nicht weiß? Antwort: Wie viele katholische Frauenorden es gibt, wie viel Geld ein Franziskaner besitzt und was ein Jesuit denkt…
Hinter dieser humorigen Aussage steht nicht nur die Auffassung, dass die Jesuiten die sprichwörtlichen „schlauen Jungs“ sind, wie man die jesuitischen Ordensabkürzung für Societas Jesu, Gesellschaft Jesu, interpretiert. Dahinter steht das – fast möchte ich sagen – freidenkerische Proprium jesuitischer Spiritualität oder Geisteshaltung, wie es sich aus der Prägung durch die Exerzitien des Hl. Ignatius von Loyola, des Gründers der Jesuiten, herleitet. Ignatius verstand die von ihm entwickelten Exerzitien als eine Art Einübung in den Erstfall des Gottesglaubens: Innerhalb von 30 Tagen gilt es, das eigene Leben unter der Beanspruchung Gottes zu begreifen, gilt es, dieses Leben dem göttlichen Willen auszusetzen, um so in persönlicher Entschiedenheit diesem Gott zu Diensten zu sein. Ignatius musste diese durchaus neue Art geistlicher Übungen seinerzeit, im 16. Jahrhundert, mehrfach vor Tribunalen der Inquisition verteidigen – er wurde stets vom Vorwurf freigesprochen, die Intention der Exerzitien sei nicht katholisch. Gleichwohl kommt in seinen geistlichen Übungen, seinem offenen Laboratorium, wie sich der Einzelne von Gott beanspruchen lassen möge, etwas Neues zum Tragen: Wir stehen hier an der Schwelle zu einem Verständnis des Einzelnen: Es ist er Einzelne, der es unvertretbar mit Gott zu tun bekommt, es ist der Einzelne, nicht das kirchliche Kollektiv, der in die Entscheidung gerufen wird, es ist das Individuum, das es mit einer je persönlichen Beanspruchung durch Gottes Willen zu tun bekommt. Das war neu, das war wegweisend, das ist fast schon modern – modern in dem Sinne, dass nun Ich gefordert und zur Stellungnahme aufgerufen bin, weil es einen Gottesglauben nur in unvertretbarer, persönlicher und je meiniger Bezugnahme gibt und geben kann.
Damit – und das ist eigentlich noch entscheidender als die jesuitische Entdeckung des Individuums – rückt in den Blick, dass es Gott nur in persönlicher, je meiniger Brechung oder Perspektive gibt, dass Gottes Präsenz sich in mannigfaltigen Perspektiven gibt, die so zahlreich sind, wie die je persönlichen Perspektiven auf ihn. Was das Wort Gott meint, steht nicht einfachhin fest, ist nicht einfach als erratisch vorgegebene Wahrheit für alle Zeiten festgezurrt, sondern wird je neu gefüllt, beschrieben und erhofft. Damit redet Ignatius keiner sprichwörtlichen Diktatur des Relativismus, des anything goes das Wort. Ganz im Gegenteil: Die Praxis der Exerzitien ist rückgebunden an die Hl. Schrift, ist eingewoben in das Sicherungsnetz dessen, was man etwas unglücklich als die Lehre der Kirche bezeichnet, die es en detail so nie gegeben hat, sondern eine stetige Fortschreibung der Gottesüberzeugung Jesu ist. Damit soll gesagt sein, dass alle theologische oder kirchliche Selbstverständigung ihren Anhaltspunkt in der Gotteshoffnung Jesu hat, der – so die christliche Überzeugung – in seinem Leben, in Wort und Tat, eine bestimmte Gottesvorstellung darstellte: einen Gott, der – wie es im Glaubenbekenntnis heißt – „für uns Menschen und zu unserem Heil“ definitiv entschieden ist, der uns – wie es in einer Präfation heißt – „mit der Macht seiner Gottheit zu Hilfe“ kommt. Gott ist nicht einfach, Gott ist im Kommen, sein Aktionsfeld ist nicht das ewig Gleiche, sondern das Offene und Neue, die Zukunft. Wenn dem so ist, dass – wie es etwa bei Johann Sebastian Bach heißt – „Gottes Zeit die allerbeste Zeit“ ist, wird in der kirchlichen Nachfolge Jesu ein Gott erhofft, dem es um das zukünftige Heil geht, von dem wir alles erwarten können.
Das ist alles weder neu noch revolutionär – warum wirkt dann Papst Franziskus oder besser gesagt das wahrgenommene Phänomen Franziskus durchaus revolutionär? Auch für seinen Vorgänger, Papst Benedikt XVI., war es nie eine Frage, dass die Kirche in dieser Nachfolge Jesu steht, dass Gott für uns Menschen und um unseres Heiles willen definitiv entschieden ist. Meine These ist, im Phänomen Franziskus zeige sich deswegen ein Paradigmenwechsel, weil hier realisiert ist, dass der – wenn man so will – Ansprechpartner Gottes vorrangig und grundlegend er je einzelne Gläubige, die je einzelne Gläubige ist. Der klerikale Apparat der Glaubenshüter wird dadurch gewissermaßen auf die Plätze gewiesen; dadurch wird er nicht obsolet, er wird nur anders justiert. Bereits in seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires erblickte Bergoglio in den Armen, welche die überwiegende Mehrheit in der lateinamerikanischen Gesellschaft ausmachen, die privilegierte Gruppe, an dies sich die Hoffnung auf die genannte allerbeste Zeit richten müsse. An ihnen habe sich die Lehre der Kirche zu bewahrheiten und zu bewähren. Dahinter verbirgt sich kein sozialromantischer Kitsch oder die Emphase sprichwörtlicher Sonntagsreden, vielmehr wird hier zum Ausdruck gebracht, dass Gott im wahrsten Sinne des Wortes ein Herz für die Menschen habe, dass er barmherzig ist.
Nicht von ungefähr trägt Papst Franziskus diese erbarmende Zuwendung Gottes in seinem Wahlspruch: miserando atque eligendo. Gleichwohl wäre Bergoglio missverstanden, als rede er damit einem laissez-faire das Wort, als wäre Barmherzigkeit das Entree zu jener genannten Diktatur des anything goes. Nein: Barmherzigkeit ist ja gerade kein Gutheißen dessen, was nicht gutzuheißen ist. Barmherzigkeit ist die Weise einer Zuwendung, wodurch etwas Verfehltes in Zukunft anders, nämlich gut werden kann. Auch das ist weder neu noch revolutionär; bestenfalls betont der Papst dies auf nachdrücklichere Weise, stellt pointiert heraus, dass diese Barmherzigkeit Gottes das Vorzeichen alle kirchlichen Praxis zu sein habe, dass sie gewissermaßen den Bildschirmhintergrund darstellt, auf dem sich alles andere zu vollziehen muss.
Zurück zu den Adressaten dieser Barmherzigkeit – oder besser hin zu dem eigentümlichen Phänomen Franziskus, bei welchem der Betonung der Barmherzigkeit als Ventil für angestaute und brodelnde Fragen oder als Türoffner für die ganze Palette der bekannten Reformforderungen wahrgenommen und interpretiert wird. Franziskus wirkt stets unkonventionell und spontan; Papstvertraute geben immer zu Protokoll, dahinter verberge sich kein ausgeklügeltes Kalkül, sondern Bergoglio sei schon immer so gewesen. Dass jeder Papst seinem Pontifikat seinen unverwechselbaren Stempel aufdrückt, ist ebenfalls nichts Neues oder Revolutionäres. Das Unverwechselbare mochte bei Benedikt XVI. deswegen nicht so aufgefallen sein, weil es sich in betont klassischer Weise artikulierte – das war bei Johannes Paul II. durchaus anders. Mehr als Johannes Paul II. oder Benedikt XVI., der eine durch den einstens unterdrückten polnischen Katholizismus, der andere durch die universitäre Theologie eher klassischer Provenienz geprägt, auch wenn Ratzinger selbst im Umfeld des letzten Konzils zu den innovativen teenager-Theologen zählte, blieb sein zweifellos hoch stehendes Denken dem mainstreem der theologischen Tradition verpflichtet, mehr als Wojtyla oder Ratzinger dürfte es Bergoglio existenziell vor Augen stehen, wie heterogen und unterschiedlich die gegenwärtigen kirchlichen und theologischen Situationen der una sancta sind, welche Ungleichzeitigkeiten kultureller wie weltanschaulicher Art bestehen und wie prekär die gewohnte Rede von der kirchlichen Einheit de facto ist: Buenos Aires ist nicht Krakau, ist nicht Regensburg oder München und ist nicht Rom, Manila oder Kinshasa. Diese Feststellung ist zunächst so offensichtlich wie banal; interessant oder bedrängend wird sie erst, wenn man die Frage stellt, wie ein Papst, der sprichwörtliche Garant der Einheit, damit umgeht oder umgehen kann – wie er auf gut deutsch den Laden zusammen hält.
Wenn zutrifft, dass die klassische Rede von der Einheit der Kirche stets eine fiktive war, dass sich die Realität des Katholischen von seinen Anfängen an höchst unterschiedlich ausdrückte, nur mit dem Unterschied, dass man vor dem Zeitalter weltweiter Information in Echtzeit leicht meinen konnte, in Karthago, Konstantinopel und Arles tickten die katholischen Uhren wie in Rom, so wissen wir dies und bekommen es in unsere Wohnzimmer gespült, dass dem nicht so ist. Wie soll sich die kirchliche Theologie dazu verhalten? Wir erleben seit Jahrzehnten, nach dem Zusammenbruch der künstlich aufrecht erhaltenen katholischen Milieus eine weit vorangeschrittene Ausdifferenzierung des Katholischen, bei dem zunehmend durchschaut wurde, dass der Diskurs darüber, was als katholisch zu gelten habe, sich durch päpstliche Machtworte wenig beeindruckt zeigt: Die Gläubigen sind gewissermaßen längst erwachsen geworden, die Gläubigen sind auch in Fragen ihres katholischen Glaubens längst in der Moderne angekommen, in welcher es sich bis zum sprichwörtlichen frommen Mütterchen herumgesprochen hat, dass dem Glauben keine vorgegebene Selbstverständlichkeit mehr anhaftet – Stichwort: das beständige Klagen, die Kinder und Enkel gingen nicht mehr in die Kirche. Nein: Ein Großteil der nominell Getauften hat längst mit den Füßen abgestimmt; das mag viele Gründe haben – dennoch manifestiert sich darin eine immer breiter wedende Kluft zwischen Lebenswahrnehmung und Kirchenwahrnehmung, manifestiert sich der Verdacht oder die Gewissheit, dass es zwischen persönlicher Lebensautonomie und vorgegebenem Kirchenglaube irgendwie knirsche. In der Tat: Die Moderne ist ein forderndes Geschäft, wenn einstige kollektiv verbürgte Gewissheiten ihren Status als Gewissheiten eingebüßt haben, wo jeder Einzelne – ob er will oder nicht – gefordert ist Stellung zu beziehen, damit er seinen Stand, seinen eigenen Standort findet.
So man dies im Rahmen des Katholischen tun möchte, ergeben sich die Verwerfungen, die seit geraumer Zeit die kirchlichen Landschaften prägen: Das Klima ist rau geworden, wo man sich wechselseitig das Katholischsein abspricht, was sowohl seitens des – gestatten sie das Schlagwort – liberalen als auch des traditionalistischen Flügels geschieht. Während das langsam in die Jahre kommende liberale Spektrum eher darum zu wissen scheint, es realisiere hier die unvermeidbare Forderung der Moderne, sich selbst als katholisch bestimmen zu müssen, ergeht sich die verräterisch schrill daherkommende Kaste des Traditionalismus in der Selbsttäuschung, die autonome Wahl des Katholischen der guten alten Zeit, die in der Regel weder sonderlich gut noch sonderlich alt sein dürfte, stelle keinen modernen Antimodernismus dar: Selbst die Beanspruchung vormoderner Gewissheiten ist ein typisch moderner Akt der Selbstbestimmung.
Zurück zu Franziskus, als eines Phänomens der Moderne: Als ich im vergangenen Jahr die Gelegenheit hatte ihn kurz zu sprechen, brachte ich meine Hoffnung zum Ausdruck, dass es ihm gelingen möge, die Kirche in der Moderne ankommen zu lassen, die sich dadurch auszeichnet, dass jeder seinen unvertretbaren Platz im kirchlichen Selbstverständigungs-diskurs einnimmt. Dabei geht es mir nicht um ein demokratisches Kirchenparlament, sondern um die theologisch zu bewältigende Einsicht, die sprichwörtliche Freiheit eines Christenmenschen könne nicht durch das ebenfalls sprichwörtliche Roma locuta causa finita ausgehebelt werden – allein deswegen nicht, weil sich die Menschen nicht oder nicht mehr aushebeln lassen. Es geht mir auch nicht darum, dass alle möglichen oder auch unmöglichen Meinungen eines Christgläubigen per se gültig und berechtigt sind – die Taufurkunde ist keine theologische Promotionsurkunde –, es geht mir darum anzuerkennen, dass die Debatte um das Katholische längst in vollem Gange ist, dass diese aber auch kirchenoffiziell zu führen ist: hier möge dann das Argument und nicht das Machtwort entscheiden. Der Papst blickt mir dann lange in die Augen und sagte zu mir: Wenn er mich recht verstanden habe, dann ist das genau das, was er will. Diese Antwort hat mich bewegt; zugleich ging mir auf, dass Franziskus auch keine andere Wahl hat. Er ist längst zum Katalysator eines offenen Prozesses geworden, bei dem über die Deutungshoheit über sein Pontifikat die Frage nach der Deutungshoheit des Katholischen stattfindet. In positiver wie in negativer Weise wird Franziskus verwendet, um die ganze Bandbreite des weltweit Katholischen auf ihn zu projizieren, wozu er auch reichlich Anlass gibt, Progressives wie Traditionalistisches, Enthaltung jeglichen Urteils wie absolutistisches Dekretieren prägen seinen Stil, das Gespräch mit einem Transsexuellen steht neben der Erteilung der Beichterlaubnis für die Pius-Bruderschaft. Der in traditionalistischen Kreisen hofierte Slogan not my pope könnte bisweilen auch in progressistischen Kreisen irrlichtern.
So zutrifft, dass Franziskus sich offensiv als erster nicht antimodernistischer Papst der Moderne versteht, wäre dies ein erfreulicher Tatbestand; erfreulich deswegen, weil er weder gegen links noch gegen rechts durchgreift. Er hat offensichtlich eingesehen, dass dies auch nichts bewirken würde, sondern seiner Symbolfunktion des Garanten einer prekären Einheit zuwiderliefe. Franziskus steht für ein offenes Laboratorium einer Kirche der Zukunft, als deren Katalysator er längst beansprucht ist, deren Moderator er sein muss, aber deren Ergebnis er nicht ex cathedra vorwegnehmen kann. Spätestens seit der Bischofssynode zur Frage der Familie von heute hat der Papst einen Prozess in Gang gebracht, den er nicht wieder einhegen kann: Indem er dort die Bischöfe mit Nachdruck ermutigte, offen zu reden und offen zu debattieren, hat er einer neuen Kommunikationskultur in der Kirche ihr Heimatrecht gegeben, das nicht wieder kassiert werden kann und auch nicht werden dürfte, dann dadurch wäre die kirchliche Einheit vollends gefährdet. Debatten oder ein sachlich geführter Streit beleben das Geschäft; wer miteinander um einen Konsens ringt, der spricht keine ausgrenzenden Verurteilungen aus.
Dass dies in einem Episkopat, der mehrheitlich von den eher autokratisch regierenden letzten Päpsten besetzt ist, bisweilen etwas holprig vonstatten geht, braucht nicht zu überraschen oder zu irritieren: ein Anfang ist gemacht, bei dem es wünschenswert wäre, dass sich die wissenschaftliche Theologie nicht nur über einige Professorenbischöfe zu Wort meldete, sondern auch jene Stimmen Gehör fänden, welche die langjährige Modernitätsverweigerung kirchlicher Wahrheitsbehörden längst durchschaut haben und hierin den eigentlichen Grund diagnostizieren, warum es zwischen der so genannten Lebenswirklichkeit und der lehramtlichen Wirklichkeitsvorgabe heftig knirscht. Um nicht missverstanden zu werden: Kirchliche Modernitätsakzeptanz hat nichts damit zu tun, sich dem gern bemühten Zeitgeist zu unterwerfen. Modernitätsakzeptanz meint die schlichte Tatsache zu würdigen, dass der Mensch sowieso nach eigenen Maßstäben und Kriterien urteilt und sein Leben gestaltet – wie sollte hier das Lebenssegment des Katholischen eine Ausnahme darstellen können? Insofern bringt das Pontifikat Franziskus lediglich zum Ausdruck, was längst der Fall ist, was sich nun aber auch artikuliert und zu Wort meldet; mit durchaus offenem Ausgang.
Blicken wir als sprechendes Fallbeispiel auf den zweiten Teil der Familiensynode im letzten Oktober: Das Hauptaugenmerk des Papstes und der Synodenteilnehmer aus aller Herren Länder lag zunächst auf der Frage, wie die kirchliche Präsenz gewissermaßen aufgestellt sein müsse, um einer lebensrelevanten Plausibilisierung dienlich zu sein, dass jenes „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ gelten könnte. Es geht um das Problem, wie der je eigene und unvertretbare Glaube an diesen Gott der verheißungsvollen Zukunft gelebt, im familiären Kontext gelebt und weitergereicht werden kann – angesichts oft desaströser Lebensumstände, unter Armut, in diktatorischen Regimen, bei Krieg und Verfolgung. Nolens volens entwickelten die Debatten dann allerdings eine – eigentlich nicht überraschende – Eigendynamik hinsichtlich der Frage, wie mit den real existierenden Formen des Zusammenlebens oder nicht mehr Zusammenlebens umzugehen sei, wo das immer wieder beschworene Familienideal zu Makulatur geworden ist, wo sich die Schuldfrage oft erübrigt. Wo es also um das kirchliche Kerngeschäft gehen sollte, die lebensrelevante Plausibilisierung eines um unseres Heiles willen entschiedenen Gottes, der sich miserando atque eligendo des Menschen annimmt, da arbeitete sich die Synode mühsam und hitzig streitend an lehramtlichen Vorgaben ab, deren oft beschworene Ewigkeitspatina durchaus jüngeren Datums sein dürfte: Während die einen bei einer kritischen Revision der klassischen Ehelehre gleich den articulus stantis et cadentis ecclesiae diagnostizierten, da befürchteten die anderen, wenn das Lehramt sich nicht revidierte, ginge der letzte Rest an Glaubwürdigkeit vollends verloren.
Man gebe sich indes keiner Illusion hin: Den überwiegende Teil der Öffentlichkeit – zumindest in unseren Breiten – interessierte das episkopale Gerangel um wiederverheiratet Geschiedene und homosexuelle Lebenspartnerschaften herzlich wenig, weil beides längst zur Normalität gehört. Jeder weiß, dass eine zerbrochene Beziehung nichts ist, was man sich wünscht – die Frage, wie man damit zukunftsfähig umgeht, beantworten die Menschen so oder so. Die Einsicht, dass eine Ehe längst ihre ökonomischen oder soziokulturellen Stützen eingebüßt hat, die es in frühren Zeiten unmöglich machten, sich zu trennen, ist bekannt. Die politische Forderung, trotz beruflich flexibler Mobilität eine feste Familienexistenz strukturell zu ermöglichen, ist in ihrer Berechtigung ebenfalls nicht neu. Die dunkle Mähr von der moralischen Verkommenheit der heutigen Generation lässt sich empirisch nicht halten; was sich erheben lässt ist die Tatsache, dass die Menschen selbst entscheiden, was als lebenstaugliche Moralität gelten soll – dass es zu alten Zeiten den Schuft und moralischen Hallodri gegeben hat, ist unstrittig. Der Streit wäre auch kirchlich nicht darüber auszutragen, wie der Wunsch nach Treue und Verlässlichkeit in einer Beziehung theologisch plausibilisiert werden könnte, denn er ist aus sich heraus plausibel und braucht gewissermaßen keine göttliche Stütze. Nein – es wäre darüber nach zu denken, wie es gerade angesichts des Scheiterns an Treue und Verlässlichkeit um Gottes Barmherzigkeit bestellt sein könnte und müsste, wo bis dato noch ein statisches Verständnis namentlich des theologischerseits eigentlich immer umstrittenen Ehesakramentes gilt.
Auch wenn es den Anschein hat, dass Papst Franziskus in diesem Punkt durchaus innovativ eingestellt ist, bleibt es abzuwarten, wie er sich zu dem eher sibyllinisch nichts sagenden Schlussdokument der Synode positioniert. Wenn meine These zutrifft, dass sich Franziskus eher als Katalysator, denn als Dekretator versteht, dürfte sich auch seine erwartete Stellungsnahme im Vagen halten; er wird den Weg jeweiliger Einzellösungen ermöglichen. Dies ist insofern berechtigt, da jedes Zerbrechen einer Ehe ein jeweiliger Einzelfall ist, bei dem allgemeine Regelungen verfehlt sein können. Wenn zudem zutrifft, dass der Papst irgendwie alle Weisen des ausdifferenziert Katholischen bei seinem offenen Laboratorium gewissermaßen mitnehmen möchte, bleibt ihm eigentlich nicht anderes übrig, als darauf zu setzen, dass die innerkirchliche Verständigung selbst den Mut zur einer Innovation aufbringt, die er nicht verordnen will, die aber längst im Gange ist.
So klug oder gar jesuitisch schlau dies sein mag, so sehr stellt sich die Frage, ob es alle Positionen verdienen, auch zukünftig mitgenommen zu werden: Soll namentlich die theologisch randständige Sexuallehre in ihrer längst registrierten Selbstverhärtung nicht vollends den Tod gesellschaftlicher Irrelevanz sterben, bräuchte es eine beherzte Selbstkritik. Diese wäre nicht nur historisch dergestalt belehrt, dass sie um den Umstand wüsste, Papst Paul VI. habe sich etwa bei der neuralgischen Enzyklika Humanae vitae gegen das Votum seiner Berater gestellt, sondern sie müsste auch der Einsicht Rechung tragen, dass sich selbst praktizierende Katholiken aus dem eher konservativen Lager daran nicht gebunden fühlen – von der Mehrheit des liberalen Spektrums ganz zu schweigen. Es ist doch die Frage zu stellen, was es für die Weisungsautorität des Lehramtes bedeutet, wenn ihm die überwiegende Mehrheit die Gefolgschaft verweigert. Es ist mithin die Frage zu stellen, ob es sich diese erfolgte Selbstdemontage leisten kann; niemand bleibt auf ewig vor einer roten Ampel stehen, wenn nie mit Verkehr zu rechnen ist. Erneut: Auch wenn von manchen Kreisen schrill behauptet, geht es bei diesen Fragen nicht um den Kernbestand der Gotteshoffnung, so als wäre es das Anliegen Jesu gewesen statt des Gottesreiches die – ich karikiere bewusst – kondomfreie Weltordnung zu etablieren.
Bereits Papst Pius XII. hatte erklärt, die Sexualität diene auch dem beiderseitigen Gattenwohl, sie sei also nicht ausschließlich auf die Zeugung von Nachkommen hingeordnet, die sich ihrerseits auch nicht von der jeweiligen Verantwortung der zukünftigen Eltern loskoppeln lässt. Gleichwohl werden hier im moraltheologischen Diskurs Fragen ventiliert, die de facto niemand wirklich interessieren oder gar von der Kirche eine maßgebliche Weisung erwarten – ohne dass ihnen dies als ein falsches Verhalten gilt. Man mag dies in rechtskatholischen Kreisen perhorreszieren, doch ändert man damit nicht, dass sich die überwiegende Mehrheit auch des gläubigen Gottesvolkes autonom verantwortet anders verhält. Wer sich nicht in ein restkatholisches moralisches Ghetto zurückziehen möchte, wüsste sich durch die theologische Tradition bestärkt, die immer von einem sensus fidelium zu sprechen wusste, von einem untrüglichen Glaubenssinn, wie es mit diesem Gott-mit-uns bestellt sei. Dieser artikulierte sich in den verschiedenen Epochen des christlichen Glaubens je anders und auch in allen Epochen je anderes, weil die Menschen sich je neu und anderes verstanden. Nur auf dem Hintergrund dieses realisierten Selbstverständnisses ist eine gläubige Bezugsnahme auf den Gott und Vater Jesu Christi möglich – das ist spätestens die Einsicht der ignatianischen Exerzitien: Ich möchte die abschließende These wagen, dass es Papst Franziskus intendiert, der Kirche in all ihren Gliedern solche Exerzitien nahe zu legen. Ein jeder und eine jede möge sich auf den Prozess der Gottfindung angesichts der eigenen Lebensexistenz einlassen, möge zunächst nicht debattierend, sondern meditierend jenem Gott gewissermaßen auf die Spur kommen, der miserando atque eligendo das Heil eines jeden will, der sich selbst in einer kontingenten Lebensgeschichte, im Leben Jesu von Nazareth, eine zukunftsweisende Gestalt gegeben hat, welche die Nachfolgegemeinschaft Jesu, die Kirche, ermutigt, den kontingenten Geschichtsläufen zuzubilligen, dass Gott auch diese als die allerbeste Zeit will, dass mithin das Bewusstsein der Moderne, in Freiheit mein Leben leben zu müssen, angesichts Gottes auch heißt, mein Leben in Freiheit leben zu dürfen.
Ob das Glaubenslaboratorium des Papstes vom „Ende der Welt“, des noch gefeierten „Menschenfreundes Franziskus“ gelingt, ist offen – auch für Papst Franziskus. Dass es dazu keine Alternative gibt, bestätigen auch die, welche es ablehnen, weil sie nolens volens dabei mitmachen. Aber gerade weil es offen ist, dürfte es jenem Gott angemessen sein, dessen Aktionsbereich die Zukunft ist; diese theologische Einsicht reichte aus, um Papst Franziskus als meinen Papst zu bezeichnen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Oliver Wintzek

Unkommentierter Rohfassung!

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