Quo vadis, Europa?

Wissenschaftliche Sitzung von Prof. Dr. Christoph Mandry

Am 09.11.2016 machte sich die Aktivitas auf den Weg zur KHG, um dort den ersten Vortrag der Reihe „Quo vadis Europa? – Welches Europa wollen wir?“ zu hören. Es referierte Prof. Dr. Christoph Mandry von der Goethe-Universität Frankfurt über das Thema „Ist Europa noch zu retten? – Die Idee der europäischen Integration angesichts der aktuellen Krisen“.

Der Vortrag steht unter der Leitfrage „Ist Europa noch zu retten?“. Diese Frage stellt sich gerade im Angesicht der aktuellen Herausforderungen, mit denen die Europäische Union in den letzten Jahren zu kämpfen hatte. Zu diesen gehören die Euro-Krise, die großen Flüchtlingszahlen und auch immer mehr die anti-europäischen Regierungen, sodass sich immer mehr Mitgliedsstaaten auf ihre nationalen Probleme zurückziehen. Dieser Trend ist nicht unbedingt als neu zu bezeichnen, da schon 2002 der Versuch einer einheitlichen europäischen Verfassung scheitert und schon damals eine erste Entfremdung der Mitgliedsstaaten zu erkennen ist.

Seit der Gründung von Europäischen Gemeinschaften nach dem 2. Weltkrieg sind die Grundmotive die gleichen geblieben. Zu diesen zählen die wirtschaftliche Zusammenarbeit, Freiheit, der Gedanke eines Sozialstaats sowie der Wunsch nach Demokratie. Zur Wahrung der Motive werden in der Nachkriegszeit der Europarat sowie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet. Außerdem treten die Gründungsstaaten (Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg, Niederlande und BRD) der NATO bei. Daher können diese drei Institutionen, der Europarat, die EWG und die NATO, als Grundpfeiler der europäischen Einigung angesehen werden. Bis 1967 existieren die Europäischen Gemeinschaften parallel nebeneinander. Zwar sind in allen drei Gemeinschaften die gleichen Mitgliedsstaaten, jedoch sind die EWG, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), sowie die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) eigenständige Bündnisse. Durch die Unterzeichnung des Fusionsvertrags 1965 entsteht 1967 eine Europäische Gemeinschaft, die die drei Vorgänger vereinigt. In den folgenden Jahrzehnten kommt es zu diversen Erweiterungen der EG. Die erste stellt die Norderweiterung von 1973 dar, wodurch Dänemark, Großbritannien und Irland der EG beitreten. Es folgen zwei Süderweiterungen, welche zur Aufnahme Griechenlands 1981 und Spanien und Portugals 1986 führen. Die nun 12 Mitgliedsstaaten der EG entschließen sich 1992 mit dem Vertrag von Maastricht dazu, die Wirtschaftsgemeinschaft um die politische Dimension zu erweitern. Somit entsteht 1993 die Europäische Union, die wir heute alle kennen. Mit der Gründung der EU in ihrer heutigen Form wurde bereits in dem Vertrag von 1992 die Grundlage für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, der Schaffung einer Unionsbürgerschaft sowie der Errichtung einer vollständigen Wirtschafts- und Währungsunion gelegt. 1995 wird mit der Einführung des Schengener Abkommens zwischen den Kontinentalstaaten der EU der nächste Schritt zu einer vollständigen Wirtschaftsunion gemacht. Außerdem gewinnt die EU drei weitere Mitglieder mit Österreich, Schweden und Finnland. Durch die Einführung des Euros 2002 ist auch die Währungsunion innerhalb der Eurozone vollendet.
Den Höhepunkt des europäischen Einheitsgedankens stellt der Entwurf für eine gemeinsame Verfassung dar, welcher 2002/03 vorgestellt wird. Gleichzeitig wird eine weitere Erweiterung um zehn neue Staaten aus dem Ost- und Südosteuropäischen Raum beschlossen, welche 2004 beschlossen wird. Die Idee einer gemeinsamen Verfassung wird allerding 2005 in Referenden in den Niederlanden und Frankreich abgelehnt, sodass eine weitere Verstärkung der Europäischen Identität scheitert. Mit der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien im Jahre 2007 erreicht die EU ihre heutige Konstellation. Das Scheitern der gemeinsamen Verfassung führt jedoch im gleichen Jahr zum Beschluss des Vertrags von Lissabon, welcher der EU eine institutionelle Handhabe geben soll.

Jedoch zeigt sich seit dem Scheitern des Verfassungsentwurfes, dass die Mitgliedsstaaten sich eher auf nationale Probleme beziehen. Die anti-europäischen Strömungen werden immer stärker und erreichen mit dem Sieg beim Austrittsreferendum in Großbritannien ihren Höhepunkt, weshalb die Frage nach der europäischen Seele aktuell wie nie zuvor ist.
Der zweite Teil des Vortrags von Professor Mandry steht unter dem Leitbild „Europa eine Seele geben“ und beschäftigt sich besonders mit dem Gedanken einer Europäischen Staatsbürgerschaft. Durch diese soll das Hindernis der nationalen Grenzen überwunden werden und ein Blick auf die Chancen, die durch die pluralistische Gemeinschaft innerhalb der EU entstehen, gelenkt werden. Jedoch muss hierfür wie so oft zunächst die sprachliche Barriere überwunden werden, denn diese stellt die größte Differenz dar. „Europa eine Seele geben“ heißt auch, dass die Mitgliedsstaaten dem Europäischen Parlament mehr Macht geben, sodass dieses die parlamentarische Verantwortung für die gesamte EU übernehmen kann. Jedoch fehlt hierfür noch das Verständnis, sich als Europäer zu definieren. Fragt man einen Engländer wo er her kommt, so lautet die Antwort: „England“, fragt man einen Griechen: „Griechenland“ und so weiter. Dieses Verhalten zeigt sich aktuell im Umgang mit der Flüchtlingsfrage. Jeder Einzelstaat löst das Problem mit einem eigenen Ansatz und gibt gerne die Verantwortung an einen anderen Staat weiter, obwohl gerade eine solche Herausforderung die europäische Zusammenarbeit fördern kann. Das Verständnis für eine europäische Identität ist die Voraussetzung für ein engeres Zusammenrücken der Mitgliedsstaaten und Vollendung der Vision einer politischen Union.

Der Titel des Vortrags heißt „Quo vadis Europa?“. Meiner Meinung nach steht Europa am Scheideweg. Es liegt nun an uns, für den Gedanken einer Europäischen Einheit zu kämpfen, denn sonst werden die nationalorientierten Strömungen immer stärker und die Europäische Union zerfällt nach und nach. Ob das Europa der Zukunft unbedingt das Prinzip einer Europäischen Staatsbürgerschaft oder nach dem Vorbild der USA als „Vereinigte Staaten von Europa“ umgesetzt werden muss, sei dahingestellt. Jedoch ist eine Europäische Identität in Zukunft unerlässlich, um gegen die äußeren Einflüsse zu bestehen.

von Bbr. Paul Grewe

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