Luther aus katholischer Perspektive

Luther aus katholischer Perspektive

Manuskript des Festvortrages von Pfarrer Stephan Weißbäcker, anlässlich des Vereinsfestes zu Ehren des Hl. Bonifatius und dem  97.Stiftungsfestes einer W.K.St.V. Unitas Palatia Darmstadt:

„Ketzer. Kirchenspalter. Lügner. Gottloser Mönch“! Die Gegner Martin Luthers hatten nichts ausgelassen, wenn es darum ging, ihre Abneigung gegen den Reformator Ausdruck zu verleihen.

Ebenso wenig zimperlich war Luther selbst in seinen Äußerungen. In der „Papstkirche“ herrschten

„Wölfe, Räuber und geistliche Tyrannen“, heißt es in einer seiner späten Schriften. Der Papst sei gar der „Antichrist“.

Aus der Distanz von beinahe 500 Jahren befremden solche Äußerungen nur noch – so gut sind inzwischen die ökumenischen Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten.

Heutzutage werden andere Attribute mit Martin Luther verbunden:

  • Luther als Reformator
  • Luther als Kirchenvater des Protestantismus
  • Luther als Vorkämpfer für Vernunft und Freiheit
  • Luther als deutscher Nationalheld

Es scheint soviele Lutherbilder zu geben wie es Lutherbücher gibt.

Für Katholiken war Luther lange Zeit der Häretiker schlechthin, der die Schuld an der Spaltung der abendländischen Kirche trägt. Mit der ökumenischen Bewegung Anfang des 20. Jh lernen katholische Christen, sich differenziert, konstruktiv und kreativ mit der Reformation und ihren Folgen auseinandersetzen, empfinden zugleich die damit zusammenhängende Spaltung der abendländischen Kirche zunehmend als tragisch und sehen sich deshalb auch heute nicht in der Lage, dies etwa fröhlich feiern zu können.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es die Frage nach einer angemessener Einordnung der Figur Luther auch innerhalb der ev. Theologie gibt. Zur Zeit stehen sich hierbei der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann und sein Tübinger Kollege Volker Leppin gegenüber.

Für Kaufmann ist Luther die Zentralgestalt der Reformation. Martin Luther habe „die abendländische Kirche und dadurch die Welt verändert wie selten ein Mann vor oder nach ihm“.

Kaufmann schreibt Luther eine originale historische Prägekraft mit bleibender Bedeutsamkeit zu.

Anders sieht es Volker Leppin. In seiner erst kürzlich veröffentlichte Monographie „Die fremde Reformation“ findet sich die Überschrift: „Am Anfang war Luther? Wohl kaum.“

Für Leppin ist Luther einzuordnen spätmittelalterlichen Entwicklungen. Luther habe weniger Neues gebracht, als Altes zu verändern versucht.  Als Alternative zu der von Kaufmann bevorzugten Deutung der Reformation als einen epochenmachenden „Umbruch“ sind für Leppin die theologischen Errungenschaften Luthers allein „Transformationen“ spätmittelalterlicher Traditionsbestände. Zentrale religionskulturelle Errungenschaften wie Individualisierung, Pluralisierung, Differenzierung oder Partizipation werden hier nicht mehr allein der Reformation zugeschrieben, sondern bereits als Kennzeichen des (altgläubigen) Spätmittelalters herausgestellt.

Zurück zu den Katholiken und ihren Theologen.

Sie haben gelernt, jenseits der Polemik und der Vorverurteilungen,

  • auf die Zeit M. Luthers genauerhin einzugehen
  • sein Anliegen näherhin zu beleuchten
  • Antworten auf die Herausforderungen der Reformation zu geben
  • Perspektiven eines Weges zur Einheit zu entwickeln.

 

Gliederung

1) Luthers Zeit
2) Luthers Anliegen
3) Kath. Antworten
4) Luthers ökumenische Aktualität
5)  Literatur

1) Luthers Zeit: Eine Übergangszeit

Die Welt, in die hinein Martin Luther am 10. November 1483 geboren wurde, ist uns heute fremd. Es war der Ausgang des Mittelalters, mit unbestreitbaren Missständen in der Kirche, vor allem einer Veräußerlichung der Frömmigkeit. Die Forderung nach einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern lag in der Luft und wurde auch auf Reichstagen immer wieder erhoben. Das Ansehen des Papsttums hatte durch das Abendländische Schisma (1378-1417), in dem sich zeitweise drei Päpste rivalisierend gegenüberstanden, schwer gelitten. In der Theologie herrschte teilweise Unklarheit, vor allem in der Gnadenlehre der neuen Richtung (via nova) des von Wilhelm Ockham begründeten Nominalismus, den Luther durch Gabriel Biel kennenlernte (der in der Rechtfertigungslehre sein Intimfeind wurde).

Auf der anderen Seite wurde das ausgehende 15. Jahrhundert von vielen als eine Zeit des Aufbruchs in eine neue Epoche erfahren:

  • Die Entdeckung der neuen Welt Amerikas durch Vasco da Gama und Kolumbus,
  • der Untergang des über tausendjährigen Byzantinischen Reiches durch die Eroberung von Konstantinopel (1453),
  • das Ende der Reconquista, die endgültige Vertreibung des Islams aus Spanien durch die Rückeroberung von Granada (1492),
  • die Entdeckung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg (1400-1468),
  • die naturwissenschaftliche Revolution des Kopernikus (1473-1543), wonach sich nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne dreht.

= das alles führte dazu, dass sich viele am Anfang einer neuen Zeit fühlten.

Insgesamt also eine Zeit des Übergangs, in der sich Altes und Neues begegneten, überlagerten und im Widerstreit miteinander lagen.

In dieser Spannung zwischen Mittelalter und Neuzeit ist Luther verstehen. Er war ein Mensch seiner Zeit.

Dieser Übergangscharakter zeigt sich auch in der Kirche seiner Zeit. Es gab Niedergang und Verfall; aber es gab auch eine katholische Reform schon vor der Reformation. In Spanien beseitigte ein Nationalkonzil in Sevilla (1478) Missstände, auch bezüglich zum Ablasshandel. Es erschien dort die berühmte polyglotte, das heißt mehrsprachige Bibel von Alcalä. In Italien gab es Reformgruppen und Reformorden. Man spricht von einem italienischen evangelismo, einer Erneuerungsbewegung aus dem Ev., die bis in höchste kirchliche Kreise der Kurie reichte (Kardinal Gasparo Contarini, Reginald Pole).

In Deutschland finden wir neben viel Unmut über Papst und Kurie ebenso eine neue Laienfrömmigkeit (devotio moderna), die Martin Luther schon als Marburger Scholar kennenlernte, ein lebhaftes Interesse für Mystik, besonders für Johannes Tauler (gest. 1361), das auch der junge Luther teilte.

Das Interesse an der Bibel war schon vor Luther erwacht: Bereits vor der Reformation sind Bibelübersetzungen ins Deutsche nachgewiesen.

Luther trat nicht in einen heruntergekommenen Orden, sondern in den Reformorden der Erfurter Augustinereremiten ein. Dort lernte er vor allem über seinen geistlichen Mentor Johannes von Staupitz die Erneuerungsbewegung kennen, die an Augustinus und Bernhard von Clairvaux orientiert war.

Einen weitreichenden Einfluss übte der aufkommende Renaissance-Humanismus auf die Zeit aus. Bei der Eroberung Konstantinopels flüchteten viele byzantinische Gelehrte nach Italien. Dort erwachte dann ein neues Interesse an der antiken Welt.

Der Ruf ad fontes, »zurück zu den Quellen«, führte dazu, die Heilige Schrift nicht mehr durch die Brille der Scholastik, sondern in der hebräischen und griechischen Ursprache zu lesen. Davon wurde auch Luther maßgeblich beeinflusst.

Wesentlich für den Renaissance-Humanismus war ebenso, dass nun der Mensch und seine Würde in den Mittelpunkt rückten. Eine Entwicklung, welche das neuzeitliche Selbstverständnis des Menschen und sein Lebensgefühl prägen sollte.

Der Wortführer des christlichen Humanismus war Erasmus von Rotterdam (gest. 1536).

Er sparte nicht mit Kritik an frömmelnden Christen, heuchlerischen Mönchen und korrupten Päpsten. In seiner Philosophie Christi hob er die Erneuerung und Besinnung auf das Wesen des Christseins hervor.

Humanismus und Reformation waren in der europäischen Neuzeit gleichsam zwei Sterne, die sich auf ihren Umlaufbahnen gegenseitig anziehen und die sich dann wieder voneinander entfernen.

2) Luthers Anliegen

In diesem geschichtlichen Kontext stellt Martin Luther ein absolut zentrale Frage mit unerhörter Wucht: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Das war Luthers ex Problem, das ihn persönlich umtrieb.

In dieser Frage bezog Luther Position gegen eine trügerische Heilssicherheit, als könne man sich bei Gott durch irgendetwas freikaufen oder durchschummeln.

Allein der Glaube (sola fide) habe in der Frage der Rechtfertigung Geltung. In der Vorlesung über den Römerbrief 1515/16 kommentiert er zu Röm 1,17: Im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie es in der Schrift heißt: Der aus Glauben Gerechte wird leben.

Die freimachende, vergebende und tröstendes Gerechtigkeit wird also nicht aufgrund menschlicher Werke, sondern allein aus Gottes Gnade + Barmherzigkeit (sola gratia) zuteil. Nicht äußerliche Frömmigkeitsformen sind von Relevanz, sondern einzig und allein der Glaube (sola fide).

Die Herrlichkeit der Gnade Gottes und seines Handeln stünde im Vordergrund der Bibel. Nicht die Reaktion des Menschen.

Ja, der Mensch könne gar nicht so viel aus freien Stücken zu einem Heil beitragen.

Rein passiv (mere passive) könne der Mensch Gottes Gnade empfangen.

In der Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam meinte Luther in seiner Schrift De servo arbitrio (1525) in aller Schärfe, dass der Mensch wie ein Reittier entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird.

Auf diesem Hintergrund wirft die Rede von Luther „als Bahnbrecher der Geistesfreiheit“ und „Bannerträger der Freiheit“ Fragen auf.

Luthers Diktum »Ich kann nicht anders. Hier stehe ich. Gott helfe mir.« gilt als Ausdruck von Luthers „Freiheit und Freimut“, des „aufrechten Gangs und des erhobenen Haupts gegenüber kirchlicher wie politischer Autorität“.

Doch so ein liberales Verständnis von Freiheit hatte Luther auf keinen Fall.

Im Bauernkrieg wie in der Auseinandersetzung mit den Täufern und den Schwärmern verteidigte er nicht die subjektive Freiheit – auch keine Gewissensfreiheit, sondern erachtete das Einschreiten der weltlichen Obrigkeit für nötig. Luther hielt noch am mittelalterlichen Gedanken der religiösen Einheit der christlichen Gesellschaft  fest. Eine pluralistische Gesellschaft moderner Lesart war ihm  kaum vorstellbar.

Die neuzeitliche Subjektivität gewinnt im Übrigen erst und va. nach dem 30 jährigen Krieg an Konturen. Va in den katholischen Landesteilen Deutschlands, Österreichs, Italiens + Spaniens gewinnt das „Ich der Person“  in der Musik,  der darstellender Kunst, in den Bildungseinrichtungen der Jesuiten sowie in der kath. Spiritualität an Bedeutung.

  • Man denke an die Exerzitien des Ignatius von Loyola, die auf existenzielle Entscheidung angelegt sind,
  • an die subjektive Erfahrungsmystik der Teresa von Avila und des Johannes vom Kreuz
  • oder an die Schrift Philothea von Franz von Sales, eine der 10 meist verkauften Schriften der Weltliteratur.

Die Moderne ist also nicht aus einem einzigen Ursprung bzw. Prinzip zu erklären.

Sie hat viele Väter und auch viele Mütter.

Von Anfang war Luthers Anliegen eingebettet in einer Theologie der Buße. Gleich in der 1. These [die Ablassthesen waren kein revolutionäres Dokument, sondern als Einladung zu einer akademischen Diskussion gedacht] sagt Luther, das ganze Leben müsse eine stete Buße sein.

Luthers Ruf zur Umkehr wurde von den Bischöfen seiner Zeit nicht gehört. Statt bußfertig und mit nötigen Reformen zu reagieren, antwortete man mit Polemik und Verurteilung. Rom trägt hier Mitschuld daran, dass aus dem Anliegen Luthers eine kirchenspaltende Reformation wurde. Diese Mitschuld hatte schon Papst Hadrian VI. durch seinen Legaten auf dem Nürnberger Reichstag 1523 anerkannt.

Luthers Büß- und Reformruf blieben ungehört.

  • Rom und die Bischöfe reagierten nicht.
  • Eine Streitgespräch Luthers mit Kardinal Cajetan in Augsburg 1518 ergab kein Ergebnis,
  • die Leipziger Disputation mit Johannes Eck 1519 endeten in der Sackgasse
  • der Verbrennung der Bannandrohungsbulle und des Corpus iuris canonici am Elstertor zu Wittenberg (1520) trugen auch nicht zur Entschärfen bei,
  • bis schließlich der römischen Bannstrahl 1521 die Fronten zementierte

Luther kam nicht an. Darauf reagierte er in (a) theologischer + (b) politischer Hinsicht.

(a) Theologisch: mit der Überbetonung des allg. Priestertums

Unter Bezug auf die Aussage des ersten Petrusbriefs (2,5.9) entwickelte Luther in seiner reformatorischen Programmschrift von 1520 An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung sein Verständnis vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen, das weit über die Auslegung bei den Kirchenvätern und der Hochscholastik hinausging und nicht nur das Papstamt, sondern das katholische Kirchen- und Amtsverständnis grundsätzlich infrage stellte.

Den entscheidenden Punkt fasste er in der Schrift an den Adel in den bekannten Satz: »Denn was aus der Taufe gekrochen ist, mag sich rühmen, schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht zu sein, obwohl nicht jeglichem ziemt, ein solches Amt auszuüben« (An den christ­lichen Adel deutscher Nation). [1]

In der zweiten Hauptschrift, ebenfalls von 1520, De captivitate Babylonica ecclesiae, hat Luther dann die sakramentale Ordnung der katholischen Kirche, so wie sie sich ihm damals darstellte, verworfen.

Für Luther war die Luther nicht die »leibliche«, sichtbare Versammlung, sondern eine unsichtbare Gemeinschaft »der Heiligen im Glauben« (Vom Papsttum zu Rom, 1520). »Die Kirche ist verborgen, die Heiligen sind unbekannt« (De servo arbitrio, 1526).

Damit war die hierarchische Verfassung nicht einfachhin geleugnet, aber doch eine Frage zweiter Ordnung, die um des Evangeliums willen übergangen werden kann.

Diese Sichtweise des allg. Priestertums auf Kosten des ministeriellen Priestertums, die Reduzierung der und teilwiese erfolgte Umdeutung der Sakramente, und sein Verständnis von Kirche zogen den theol. begründeten Bruch mit der kath Kirche nach.

(b) Das Geltungsbewusstsein Luthers und die Reserve der Bischöfe führten zu einer politischen Entwicklung mit ungeheurem Ausmaß.

Denn Luther wandte sich an die Fürsten, als er bei den Bischöfen auf taube Ohren stieß. Schon 1520 legte er (auf der Grundlage seiner Lehre vom allgemeinen Priestertum) die Reform in die Hände des christlichen Adels und der reichsstädtischen. Magistrate. Der Appell an den Adel, nicht an das Volk zeigt, wie sehr Luther noch mittelalterlich dachte.

 

Aus der Verlegenheitslösung, die Fürsten mit ins Boot zu nehmen, wurde eine Dauerordnung, die zum landesherrlichen Kirchenregiment der Fürsten führte. Im Augsburger Religionsfrieden 1555 wurde der Grundsatz cuius regio, eius religio zum Reichsgesetz. Den Landesherren (nicht den einzelnen Christen) stand es frei, sich für die katholische oder für die lutherische Religion zu entscheiden. Es entstand ein Kirchenwesen, bei dem die Glaubensfreiheit des Einzelnen wenig Platz hatte

Schon zu Lebzeiten Luthers und vollends nach seinem Tod kam es zu einer Auflösung der Einheit innerhalb der reformatorischen Bewegung und zu einem unheilvollen Pluralismus innerhalb der abendländischen und dann der gesamten Christenheit.

Die staatskirchliche Situation der lutherischen Landeskirchen blieb in Deutschland im Prinzip bis zum Ende der Monarchie 1918 erhalten. In den skandinavischen Ländern, ähnlich in der Church of England, dauert das Staatskirchentum in abgeschwächter Form bis in die Gegenwart fort.

Die kath. Kirche war weniger anfällig für kleinstaatlichen Provinzialismus. Vor allem dank der Ausbreitung der Kirche in der neuen Welt Lateinamerikas und der Missionstätigkeit in Afrika und Asien, besonders durch Franz Xaver, entging die katholische Kirche der akuten Gefahr, sich als eine lokale Partikularkirche zu sehen u. sich konfessionell zu verengen.

 

3) Kath. Antworten

Die kath. Theologie hatte sich dem Vorwurf zu stellen, sie würde sich Gott bemächtigen. Unmissverständlich hatte sie klarzumachen, dass man Gott nicht in irgendeiner Weise kaufen oder in die Tasche stecken kann. Das konnte sie auch. Selbstverständlich ist für die kath. Theologie Gott das absolute Geheimnis und der Letzthandelnde.

Zugleich verwiesen kath. Denker, dass die Reformatoren mit einer so steilen Transzendenz Gottes angesetzt hätten, dass sich vor Gottes Alleinwirksamkeit alles echt kreatürliche Wirken verflüchtige.

Demgegenüber stellt das kath. Denken heraus, das Göttliche ohne das Menschliche gar nicht für uns existiert“ (J. A. Möhler), dass es also kein reines Gotteswirken geben kann. Das Handeln Gottes ist  in Christus, dem Gott-Menschen, immer inkarnatorisch vermittelt und stellt sich nicht ohne seinen menschlich-kreatürliche Gestalt dar.

Nach kath. Lesart ist die Begegnung von Gott und Mensch eine Geschichte und ein Spiel der Freiheiten. In diesem Sinn besteht der kath. Denkansatz in einer Polarität (et-et), nicht in der Ausschließlichkeit eines alleinigen Akteurs (sola).

Das katholische Denken trifft also auf ein reformatorisches Pathos der Ausschließlichkeit, des Abstandes zwischen Geschöpf und Schöpfer, der Diskontinuität, durch welche der unendliche qualitative Unterschied zwischen Gott und Mensch, Gnade und Natur, Offenbarung und natürlichem Denken hervortritt.

Es trifft auf den reformatorischen Ansatz des Allein  (sola gratia, sola fide, sola scriptura) und stellt ihm ein Analogie-, Polaritäts- und Kontinuitätsdenken entgegen.

Man könnte auch sagen, dass die kath. Theologie der Gestalt einer Ellipse mit zwei Brennpunkten gleiche.[2] Statt einem einfachen Umschlag von Ja zum Nein, einem hartes Entweder-Oder, einem Gegensatzes sucht sie Kontinuität, Zusammenhänge, sanfte Übergange und das Ineinandergreifen der Elemente.

 

Wenn man die die Brennpunkte, zwischen denen das kath. Denken verläuft, konkret benennen will, darf man zu den bannten charakteristischen Formeln greifen wie:

Gott und Welt, Gnade und Natur, Schrift und Überlieferung, Tradition und Fortschritt, Glauben und Werke, Wort und Sakrament, Glauben und Wissen, Mysterium und Vernunft, Allmacht und Freiheit, Charisma und Amt.

Ganz offensichtlich stehen hinter den Denkfiguren der Protestanten und Katholiken ganz  unterschiedliche anthropologische Festlegungen, also ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage: Was ist der Mensch? – Was ist er?

  • Ein völlig durch die Sünde verdorbenes Wesenoder ein durch die Sünde zwar angeschlagenes aber auch weiterhin auf Gott offenes Wesen
  • Ein Misthaufen, auf das der Schnee der Gnade fällt

oder im Innersten Eben- und Abbild Gottes

  • Ein zum Guten unfähiges Wesen

oder Hörer des Wortes.

  • Ein rein passiver Rezipient der Gnade Gottesoder ein Mensch, im dem die Gott gegebenen Gnade sich entfalten kann.

Die Entscheidung in dieser Frage legt Weichen für eine gesamte Theologie

4) Martin Luthers ökumenische Aktualität

Auf kath. Seite unternahm man nach dem II., Vatikanum bilaterale Dialoge mit den getrennten kirchlichen Gemeinschaften. Auf deutscher Ebene war am wichtigsten Lehrverurteilung – kirchentrennen? (1986), auf internationaler Ebene die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999). Man redet also miteinander und ist bereit, voneinander zu lernen.

  • Trotz intensiver Dialoge gibt es zurzeit keine Einigkeit im Verständnis des Amtes und der Kirche. Hier trennt ein ungeheurer Graben Katholiken und Protestanten voneinander.
  • Positiv aufgenommen wird von kath. Seite das Evangelium von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes sowie der Ruf zur Umkehr und Erneuerung. Darum ging es ja Luther wesentlich.Vgl. (ecclesia semper renovanda et reformanda LG 8, UR4 6)
  • Ökumene der Taufe“  Taufe  – das ök Sakrament
  • Ökumene des Blutes“ (Franziskus). Unsere Zeit kennt eine Verfolgung von Christen, die keine konfessionellen Unterscheide macht. Christen werden verfolgt und getötet, nicht weil sie orthodox, katholisch oder evangelisch sind, sondern einfach deshalb, weil sie Christen sind
  • Geistliche Ökumene“: gemeinsame Schriftlesung und gemeinsames Gebet

Schlussbemerkung

Nicht nur die Geistesgeschichte und Theologie entwickeln sich mit der Zeit. Auch unsere Welt verändert sich. Und wir finden uns in einer Welt wieder, in der Gott oft ein Fremder geworden ist, vielen Zeitgenossen zum Fremdwort geworden, zu einem blinden und undeutlichen Wort.

Viele reagieren auf die konfessionellen Unterscheide  mit kopfschüttelndem Unverständnis, wenn nicht mit einer kalten Gleichgültigkeit. Nicht wenige sind aktiv, wenn es darum geht, das Christentum aus dem öffentlichen Bereich zurückdrängen. In dieser Situation bräuchte die Kirche ihre Ressourcen und ihre Kräfte für Wesentliches.

Zum Dialog gibt es kaum eine Alternative. Dialog bedeutet nicht, das, was man bisher als Wahrheit geglaubt hat, über Bord zu werfen. Einen wirklichen Dialog können nur Menschen führen, die je ihren Standpunkt haben, die aber bereit sind, aufeinander zu hören und voneinander zu lernen.

Gleichzeitig gilt: Wir können die Ökumene nicht „machen“, nicht organisieren oder gewaltsam forcieren. Die Einheit ist ein Geschenk von Gottes heiligem Geist. Von seiner Macht dürfen wir nicht zu gering denken. Der Geist Gottes, der das Werk der Einheit begonnen hat, wird es auch zu Ende frühen, eine Einheit, nicht wie wir sie wollen, sondern wie Er sie will.

Ökumene wird vorangehen, wenn von beiden Seiten der Wunsch lebendig ist, Jesus Christus tiefer zu erkennen und ihn gemeinsam der Welt zu bezeugen.

Literatur:

  • Christian Danz, Jan-Heiner Tück: Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische und theologische Perspektiven, Freiburg 2017.
  • Albert Mock: Abschied von Luther
  • Leo Scheffcyk: Katholische Glaubenswelt, Paderborn 2008
  • Paul Hacker: Das Ich im Glauben bei Martin Luther. Der Ursprung der anthtopozentrischen Religion, Bonn 2002.
  • Volker Leppin: Martin Luther, Darmstadt 2006.
  • Lyndal Roper: Luther. Der Mensch Martin Luther, Frankfurt Main 2016
  • Walter Kasper: Martin Luther. Eine ökumenische Perspektive, 2016
  • Peter Neuner: Martin Luthers Reformation. Eine katholische Würdigung, Freiburg 2017

 

[1] Im Übrigen war für Luther Papst Leo X., der sich seinem Reformansatz widersetzte, der im zweiten Thessalonicher-brief (2,4) vorhergesagte Antichrist

[2] Auf dem Bogen einer Ellipse haben bekanntlich alle Punkte eine bestimmte und eindeutige Beziehung zu den beiden Brennpunkten. Die Summe der Abstände jedes beliebigen Punktes der Kurve zu den beiden Brennpunkten ist nämlich konstant. Von daher beweist dann das kath. Glaubensdenken auch eine frappierende Konstanz. Wenn man die Punkte auf der Ellipse mit der Vielzahl der Probleme vergleicht, die sich in der Geschichte diesem Denken gezeigt haben, so darf man sagen, dass diese Probleme wegen der Verknüpfung mit den beiden Brennpunkten in den Lösungen nie absolut gegeneinander stehen, sondern miteinander verbunden bleiben.

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